Der Fall „Isdal Woman“ – der Geheim-Code und offene Fragen

Endlich steht der Original-Code der sogenannten Isdal Woman als unveränderter Scan zur Verfügung – gedankt sei dem norwegischen Online-Magazin NRK, das den ganzen Fall seit diesem Jahr im Rahmen eines spannend klingenden Rechercheprojekts neu aufrollen (und hoffentlich mittels einer bereits gestarteten DNA-Untersuchung lösen) will. Daher an dieser Stelle einige kurze Anmerkungen, spontane Ideen und offene Fragen zu den spärlichen schriftlichen Hinterlassenschaften der mysteriösen Isdal-Frau.

1. Code ohne Codierung? Man kann sich in der Tat fragen, ob die in den Koffern gefundenen Aufzeichnungen strenggenommen überhaupt als Code gelten können – denn es gibt ja eigentlich keine Verschlüsselung, die den „Klartext“ in eine chiffrierte, ggf. umständlich zu entschlüsselnde Zahlen-Buchstaben-Folge überträgt. Wenn in den Notizen zum Beispiel der Buchstabe B angegeben wird, steht dieser bloß für eine Stadt, deren Name mit B beginnt – eben das norwegische Bergen; steht hier die Zahl 18, steht diese für den 18. eines Monats (in diesem Fall für den 18. November 1970, das letzte vermerkte Datum). Wir haben es hier also vermutlich in erster Linie mit einem persönlichen System von Abkürzungen zu tun, das mit etwas Intuition relativ leicht durchschaut werden kann – weswegen die Ermittler den lediglich eine halbe Seite füllenden „Code“ ja auch nach wenigen Tagen bereits lesen und als Protokoll der Reiseaktivitäten interpretieren konnten.

Der einfach zu knackende Notizbuch-Code lässt natürlich die populäre Theorie, die Frau mit so klangvollen Alias-Namen wie Geneviève Lancier oder Fenella Lorch sei in geheimdienstlichem Auftrag in Norwegen unterwegs gewesen, zunächst einmal eher unwahrscheinlich erscheinen.

Ebenfalls fällt auf, dass der Code bzw. das Abkürzungssystem ggf. nicht konsequent angewendet worden ist (oder neue Fragen aufwirft): Im ersten Abschnitt, der vermutlich die Tour der Isdal-Woman von London über Genf und Oslo nach Bergen dokumentiert, lautet das Schema noch so: Tag (Beginn der Etappe)-Monat-Tag (Ende der Etappe)-Monat-Stadt (Ankunftsort) – also zum Beispiel 17 M 19 M G (Zeile 3 im Scan unten), wobei das M für den Monat März, das G für Genf (?) steht. In den Abschnitten bzw. Blöcken 2-4 findet sich aber vielmehr das folgende Schema: Monat-Tag (Beginn der Etappe)-Monat-Tag (Ende der Etappe)-Stadt (Ankunftsort). Beispiel: O 22 O 28 P, das O steht für Oktober, das P soweit wir wissen für Paris.

Bei genauerer Betrachtung fallen in den Aufzeichnungen auch Buchstaben bzw. Symbole auf, die nicht richtig in die oben skizzierten Schemata passen wollen. Wofür steht das einzelne H in Zeile 6, Block 1, auf das zeitlich zwei Tage entfallen (1. und 2. April)? Ein H kommt ansonsten nirgendwo im Code wieder vor. Das Doppel-J (Block 3) steht für Juli – das Einzel-J für Juni, wie man annehmen kann. Doch gibt es inklusive Januar drei Monatsnamen, die mit J beginnen – wäre dieser Monat dann umständlich als JJJ abzukürzen, damit Eindeutigkeit besteht? In den letzten Zeilen der Blöcke 1-3 (also den jeweils letzten Etappen der Reise) finden wir außerdem den Buchstaben R – können wir schlussfolgern, Rom war der Hauptwohnsitz der Code-Verfasserin, an den sie jeweils nach jeder der drei Touren im Jahr 1970 zurückgekehrt ist? Und wofür steht das Doppel-M in der letzten Zeile?

Der Original-Code.

2. Zahlensalat. Überwiegend wird die Ziffer 1 von der Isdal-Frau im angelsächsischen bzw. US-Stil als einfacher vertikaler Strich geschrieben; hierzu passt auch die Ziffer 9 mit einfachem Strich nach unten, also ohne Haken; anders als wie in Deutschland typisch mit Haken. Eine Ausnahme stellt allerdings schon Zeile 2 dar, hier wird die 11 mit den hierzulande gängigen Häkchen nach links geschrieben. Die Häkchen-Eins findet sich auch in Block 2, Zeile 2 und 5 sowie in Block 3, Zeile 4 – und an dieser Position im Code fast direkt neben einer 1 im Strich-Stil! Hier scheint es fast, als ob die persönliche Gewohnheit, die 1 stets entweder mit oder ohne Extra-Strich zu schreiben (wie die 7 mit horizontalem Strich) mit den Konventionen der Code-Sprache konkurriert, die eben nur teilweise eingehalten werden. Oder aber wir müssen den im selben Dokument parallel verwendeten Schreibweisen verschiedene Bedeutungen zuweisen – vielleicht ist der Code doch raffinierter und subtiler als angenommen?

(Im Prinzip wird die 1 ohne Häkchen für die Klarheit des Codes nicht benötigt, denn die Unbekannte schreibt die 7 mit horizontalem Strich – damit sind 1 und 7 in jedem Fall voneinander unterscheidbar.)

Interessant könnte an dieser Stelle ein Blick auf das Anmeldeformular sein, das die Isdal-Frau unter der Identität Alexia Zarna-Merchez am 30. Oktober 1970 beim Einchecken im Hotell Neptun in Bergen ausgefüllt hat – hier ist die 1 ebenfalls schlicht und ohne Häkchen geschrieben, die 7 mit Strich – genau wie im Code. Einen Scan gibt es ebenfalls hier bei NRK.

3. Das verzierte N. Wirklich komisch und auffällig ist die Schreibweise des Buchstabens N – denn die Isdal-Woman verziert diesen Buchstaben als einzigen durchgängig mit „Serifen“, also kurzen Strichen dort, wo man den Stift beim Schreiben normalerweise einfach an- und absetzen würde. Oder dient dies der Unterscheidbarkeit zu den Buchstaben H und M, die beim schnellen Schreiben vielleicht ähnlich aussehen würden?

Das "N" mit Serifen

Ein interessantes und merkwürdiges Detail in jedem Fall!

Übrigens: Wer noch mehr Ideen und Lösungsansätze hat, kann sich direkt an NRK wenden – Mailadresse findet man unter den oben angegebenen Links.

-MR

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