Mittlerweile haben sich ja in Sachen „russische Fenster- und Balkonstürze“ schon wieder so viele neue Fälle angesammelt, dass es für einen Teil 2 und 3 (!) unserer Serie mehr als ausreicht. Deswegen kommen heute auf einen Schlag sechs neue Episoden für die Jahre 2021 und 2022, sortiert in chronologischer Reihenfolge. Teil 3 folgt in Kürze.
Kirill Alexeyevich ZHALO (19. Oktober 2021, 3. Stock, Fenster, Berlin, verstorben)
War es Selbstmord, als Kirill Zhalo an diesem frühen Morgen im Herbst 2021 aus dem Fenster der russischen Botschaft in Berlin fiel und auf den Bürgersteig unweit des Brandenburger Tors klatschte? Klar ist nur, dass Zhalo nicht irgendein Botschaftsmitarbeiter war und auch nicht nur „Zweiter Botschaftssekretär“, so sein offizieller Titel seit 2019, sondern dass der zum Todeszeitpunkt 35-jährige verdeckter Beamter des Geheimdienstes FSB (Ex-KGB) gewesen sein soll.
Wie Recherchen von Bellingcat ergaben, handelte es sich bei Zhalo außerdem um den Sohn von Generalleutnant Alexey Zhalo, den (noch immer) amtierenden Chef der „Direktion für den Schutz der Verfassungsordnung“ (russisch: Управление по защите конституционного строя, oder kurz: УЗКС; Link). Hinter dem spröden Namen dieser Abteilung, die zu Sowjetzeiten wohl schlicht als „Fünftes Direktorat“ bekannt und 1989 umbenannt worden war (Link) verbirgt sich ein Organ der russischen Exekutive, das konkret für Attentate in- und außerhalb Russlands (mit-)verantwortlich gemacht wird, darunter die Morde bzw. Mordversuche an Alexey Navalny, Vladimir Kara-Murza oder Zelimkhan Khangoshvili (andere Schreibweise: Selimchan Changoschwili; ein Fall, über den wir hier schon mal gebloggt hatten).
Auffallend sind übrigens folgende zeitliche Korrelationen: Zhalo trat am 19. Juni 2019 seinen Dienst in der Berliner Botschaft an; erschossen wurde Khangoshvili knapp zwei Monate später, am 12. August 2019. Und der Fenstersturz ereignete sich nur wenige Wochen vor der Urteilsverkündung gegen den „Tiergartenmörder“ Vadim Krasikov am 15. Dezember 2021 – der ja aus der russischen Botschaft tatkräftige Unterstützung (Waffe, E-Scooter, Fluchtplan usw.) erhalten haben soll.
Dan K. RAPOPORT (14. August 2022, 5. Stock, Fenster, Washington DC, verstorben)
Spannender Fall mit komplexer, teilweise aber auch sehr spekulativer Hintergrundstory – und einer der ersten mysteriösen Todesfälle nach Beginn des Ukrainekrieges. Der aus Riga stammende Rapoport war als umtriebiger Geschäftsmann mit hohen Führungspositionen in verschiedenen russisch-amerikanischen Joint Ventures bekannt. 1995 stieg er bei CentreInvest Securities ein und übernahm leitende Funktionen, ab 2003 als geschäftsführender Direktor und Chef des Brokergeschäfts der Niederlassung in Moskau. 2012 kehrte Rapaport wieder zurück in die USA, kritisierte kurz zuvor aber noch in einem Interview mit dem Portal Finparty in deutlichen Worten die politische Situation im Land:
1-5 % der Bevölkerung hängen am Futtertrog, weitere 5-10 % beginnen zu verstehen, was passiert und was sie wütend macht, die restlichen 90 % schauen NTV (russischer Fernsehsender, Anm. MR) und glauben, dass alles, was gezeigt wird, die Wahrheit ist und dass die Kundgebungen nur Streiche der amerikanischen oder britischen Geheimdienst wären (Quelle)
Spannend sind in einem erweiterten Kontext auch die Recherchen von Bellingcat, die Rapaport als einen der Urheber der Fake-Identität „David Jewberg“ vermuten (Quelle). Vor allem auf Facebook und LinkedIn hatte der angebliche US-Militärangehörige und „Senior Russian Analyst at US Department of Defense“ Jewberg seit 2016 kremlkritische Kommentare publiziert und sich damit insbesondere unter Exilrussen in den USA eine beachtliche Fangemeinde aufgebaut.
Laut US-Gutachtern soll die Ursache des tödlichen Sturzes Rapaports aus dem luxuriösen Wohngebäude 2400 M Apartments in Washington im Sommer 2022 „unklar“ sein („undetermined“) (Link).
Ravil Ulfatovich MAGANOV (1. September 2022, 6. Stock, Fenster oder Balkon, Moskau, verstorben)
In der jüngeren Geschichte sicherlich einer der hochkarätigsten Fälle von „Defenestration“ überhaupt. Der aus Tatarstan stammende Ravil Maganov stieg bereits 1993 in den staatlichen Öl-und Gaskonzerns LUKOIL ein und arbeitete sich über die Jahrzehnte bis zum Amt des Vorstandsvorsitzenden hoch, das er 2020 übernahm. Als ein möglicherweise kritisches, sicherlich aber ungewöhnliches Ereignis im Vorfeld des mysteriösen Todes Maganovs gilt die Veröffentlichung einer offiziellen Pressemeldung im Namen des Vorstands von LUKOIL, publiziert am 3. März 2022 auf der Firmenwebsite. Die Publikation ist ein Statement zum Ausbruch des Ukrainekrieges, verfasst auf Russisch und Englisch, adressiert an Mitarbeiter, Kunden und Shareholder. Hier ein Auszug:
The Board of Directors of LUKOIL expresses herewith its deepest concerns about the tragic events in Ukraine. Calling for the soonest termination of the armed conflict, we express our sincere empathy for all victims, who are affected by this tragedy. We strongly support a lasting ceasefire and a settlement of problems through serious negotiations and diplomacy.
Hier für alle Fälle die originale Pressemeldung als PDF: Download, 17 KB
Kann man dies als Anti-Kriegs-Statement interpretieren? Interessant ist auf jeden Fall, dass hier der Begriff „bewaffneter Konflikt“ („вооруженного конфликта“) verwendet wird statt des offiziellen Euphemismus „militärische Spezialoperation“ („специальная военная операция“). Diese Formulierung steht auch nach wie vor online.
Maganov stürzte jedenfalls wenige Monate später aus einem Fenster (andere Quellen: Balkon) des elitären Zentralkrankenhauses in Moskau, das hochrangigen Figuren aus Politik und Wirtschaft vorbehalten ist. Laut der Nachrichtenagentur TASS soll Maganov an Herzproblemen gelitten haben und aus diesem Grund eingeliefert worden sein, Strafverfolgungsbehörden würden von Selbstmord ausgehen (Quelle 1; Quelle 2). Die Überwachungskameras waren im relevanten Zeitraum wegen Reparaturen angeblich ausgeschaltet.
LUKOIL veröffentlichte noch am 1. September eine Pressemeldung und spricht von einer „schwerwiegenden Erkrankung“ als Todesursache.
Grigory KOCHENOV (7. Dezember 2022, Balkon, Nischni Nowgorod, verstorben)
Tragischer Fall, der im Vergleich zu den meisten anderen Fällen aus 2022 relativ wenig Medienecho hervorgerufen hat. Kochenov war als Kreativdirektor bei der IT-Agentur AGIMA beschäftigt, die Lösungen für namhafte internationale Unternehmen entwickelt (Quelle); der zum Zeitpunkt seines Todes erst 41-jährige galt als ein in der Branche gefragter Experte und sprach als Referent auf renommierten Veranstaltungen wie TEDx Talks oder der Media & Design Conference.
Grigory Kochenov stürzte am 7. Dezember vom Balkon seiner Wohnung an der Volodarsky-Straße in Nischni Nowgorod – und dies offenbar unmittelbar nachdem er ein Razzia-Team der örtlichen Polizei hineingelassen und den Durchsuchungsbefehl gegengezeichnet hatte. Die Beamten sollen bei der Durchsuchung mehrere Terabyte kinderpornografisches Material in der Wohnung gefunden haben, meldete das Portal Kommersant noch am gleichen Tag. Medien wie NN berichten hingegen, dass diese Vorwürfe von offizieller Seite nicht bestätigt worden seien (Quelle).
Kritische Betrachter des Falls kommentierten auf X (bzw. zu dem Zeitpunkt noch Twitter) schnell, dass es sich bei den Porno-Vorwürfen um ein gängiges „FSB-Klischee“ handle, ggf. steckten wirtschaftliche Motive o. ä. dahinter, so Vermutungen (Quelle1; Quelle 2). AGIMA-Grüner Alexander Bogdanov sprach gegenüber der Komsomolskaja Prawda in ähnlicher Weise von „völligem Unsinn“. Weitere Kollegen Kochenovs äußerten sich ebenfalls kritisch und bezeichneten den IT-Experten laut NN als „Seele unseres Unternehmens“.
Dmitry ZELENOV (9. Dezember 2022, Treppengeländer, Antibes/Frankreich, verstorben)
In den frühen 2000ern schaffte es der Zelenov mit seinem aus Immobiliengeschäften stammenden Vermögen von rund 1,4 Milliarden US-Dollar in die Ränge der reichsten russischen Staatsbürger – bis die von ihm gegründete Don-Stroy-Unternehmensgruppe in der Folge der Finanzkrise 2008 ordentlich Federn lassen musste. 2009 erwarb die russische Staatsbank VTB für symbolische 500 Rubel eine Mehrheitsbeteiligung am angeschlagenen Unternehmen und leitete Umstrukturierungsmaßnahmen ein, wie REUTERS meldete (Quelle).
Was von Zelenovs Vermögen noch übrig war, als er nach einem Besuch bei Freunden im schnieken Antibes Juan-les-Pins an der Côte d’Azur am 9. Dezember ums Leben kam, bleibt unklar. Bekannt ist lediglich, dass der 50-jährige Oligarch sich nach dem Abendessen unwohl gefühlt habe, beim Verlassen des Gebäudes auf der Treppe gestolpert sei und dann über die Balustrade gefallen und sich eine Schädelverletzung zugezogen haben soll, wie das Magazin var-matin berichtet (Quelle). Er sei zwar zügig ins Krankenhaus eingeliefert worden, dort aber am nächsten Tag verstorben. Die französische Polizei leitete eine Untersuchung ein. Kurz vor seinem Todestag soll sich Zelenov angeblich außerdem einer Operation am Herzen unterzogen haben, wie man auf Telegram lesen kann.
Nicht ganz uninteressant sind auch die hässlichen Erbstreitereien der Folgemonate, über die Forbes ausführlich berichtet.
Pavel Genrikhovich ANTOV (24. Dezember 2022, 2. Stock, Rayagada/Indien, verstorben)
Und noch ein merkwürdiger Fall aus dem „Sterbemonat“ Dezember 2022. Der Vizepräsident und Minderheitsaktionär des Wurstherstellers Vladimirsky Standart und Regionalpolitiker der Putin-Partei „Einiges Russland“ starb nach einem Fenstersturz kurz nach seinem 65. Geburtstag. Der „Unfallort“: Die bescheidene (für einen der bestverdienenden Politiker Russlands eigentlich wenig standesgemäße) 3-Sterne-Residenz Sai International Hotel in Rayagada in der indischen Region Odisha. Die vergleichsweise geringe Fallhöhe ist hier sicherlich auf den ersten Blick merkwürdig – das Hotel hat nur zwei Stockwerke.
Die Spekulationen zum Todesfall Antov kreisen vor allem um ein kriegskritisches Posting, dass der schwerreiche Oligarch am 26. Juni auf seinem WhatsApp-Account abgesetzt hatte. Hier die Übersetzung:
Morgenangriffe in Kiew. Das Entscheidungszentrum ist heute ein gewöhnliches Wohnhaus im Schewtschenko-Viertel. Ein Mädchen wurde unter den Trümmern hervorgezogen, der Vater des Mädchens ist offenbar gestorben, man versucht, die Mutter mit einem Kran herauszuholen – sie ist unter einer Platte eingeklemmt. Die Wahrheit ist: Es ist äußerst schwierig, es etwas anderes als Terror zu nennen.
Auf dovod.online gibt es einen Screenshot der originalen WhatsApp-Botschaft.
Antov ruderte am nächsten Tag zurück, löschte den Post, entschuldigte sich auf seinem Profil auf VK und nannte dort „technische Probleme“ als Ursache für die Veröffentlichung.
Ebenfalls komisch: Nur zwei Tage vor dem tödlichen Sturz, am 22. Dezember (dem Geburtstag Antovs) fand man bereits Antovs Gefolgsmann Vladimir Bidenov im selben Hotel tot auf, Todesursache: Herzversagen, wie die britische Daily Mail berichtet.
-MR