20 Jahre intensive Ermittlungen, doch noch immer ist die Täterschaft im Fall Miyazawa (japanisch: 世田谷一家殺害事件) ungeklärt. Zu den Hypothesen der japanischen Ermittler gehört ja unterem, dass der Täter der lokalen Tokyoter Skater-Szene angehört haben könnte. Dafür gibt es aufgrund der am Tatort zurückgelassenen Kleidung, der unmittelbaren räumlichen Nähe des beliebten Sochigaya-Parks und belegbaren Streitereien zwischen Familienoberhaupt Mikio Miyazawa und Mitgliedern ebendieser Szene ja auch einige nachvollziehbare Gründe.
Was aber wäre, wenn der Täter weniger persönliche Verbindungen zum Skaten als vielmehr zu einer anderen Sportart hätte: Baseball? Sammeln wir mal einige Fakten und Indizien, die in diese Richtung weisen:
1. Der „Raglan-Sweater“. Das Longsleeve-Shirt in Größe L, das im Haus (blutbespritzt und danach akkurat zusammengefaltet) aufgefunden wurde, ist eine besonders wertvolle Spur, denn in ganz Japan wurden laut Fahndungsaufruf der Polizei Tokyo im Zeitraum August bis Dezember 2000 von dieser Textilie landesweit nur 130 Stück im Einzelhandel verkauft. Das Hemd wird als Typ „Raglan-Shirt“ in den Farben Violett und Hellgrau identifiziert. Zwölf der Käufer können von der Polizei ermittelt werden, darunter einer aus dem Raum Tokyo.
Mit ihrem charakteristischen Farbmuster (heller, meist unbedruckter Brust- und Rückenteil, farbige Ärmel) und dem sogenannten „Crew Neck“ gehören diese Longsleeves traditionell zur Sportbekleidung beim Baseball bzw. hat sich die Bezeichnung „Baseball Shirt“ für diese Art T-Shirt allgemein etabliert, was auch eine Google-Bildersuche nach diesem Begriff verdeutlicht.
Besonders interessant: Obwohl das sichergestellte Baseball-Shirt erst wie gesagt ab August 2000 in Japan im Handel erhältlich war, befand sich das Hemd (laut japanischem Wikipedia-Eintrag – aber auch auf dem Foto zu erkennen) bereits in einem erkennbar gebrauchten Zustand; es war mehrfach gewaschen worden und die Farben waren somit teils ausgebleicht. Das Shirt wurde also in den 4-5 Monaten bis zur Tat regelmäßig getragen – möglicherweise tatsächlich auch beim Baseball-Spielen?
Weiteres spannendes Indiz: Die japanischen Forensiker konnten 2010 am Sweater Anhaftungen von pulverförmigen Farbstoffen und von Silikonöl nachweisen (Quelle: japanischer Wikipedia-Artikel, übersetzt mit Google Translate):
Es wurde kürzlich entdeckt, dass das am Tatort zurückgelassene Sweatshirt mit einer chemischen Verbindung namens Silikonöl verunreinigt war. In den Turnschuhen wurde auch pulverförmiger Fluoreszenzfarbstoff nachgewiesen.
Die Verwendung von Silikonöl bzw. Silikonspray zum Pflegen und Aufweichen von Baseball-Handschuhen aus Leder (sogenanntes „break-in“) war wohl zumindest in früheren Jahren nicht unüblich, wie Quellen aus den USA zeigen – auch wenn mittlerweile erfahrene Spieler offenbar zu anderen Mitteln raten.
2. Baseball-Begeisterung. Das Rasenspiel ist nicht nur in den USA Breitensport, sondern mit 27 Millionen Fans (ca. 20% der Bevölkerung) seit Jahrzehnten auch in Japan. Kein Wunder, dass sich auch in der Nähe des Hauses der Familie Miyazawa in Setagaya mehrere Baseballplätze befanden, einer dieser Plätze nur rund 110 Meter nördlich. Es handelt sich um das Trainingslager der Komazawa-Universität. Der zugehörige Club besteht seit 1947.
Das Bild unten zeigt die nähere Umgebung im Jahr 1997, rot umrahmt das Miyazawa-Haus:
Einen sehr guten Eindruck von der Umgebung des Tatorts in Setagaya vermittelt übrigens eine 3D-Simulation des japanischen Metropolitan Police Departments. Hier wird auch deutlich, dass sich der Skater-Park nicht wie in vielen Berichten angegeben unmittelbar hinter dem Haus der Familie Miyazawa befand (dort befindet sich vielmehr ein Spielplatz), sondern rund 50 Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der nord-südlich verlaufenden Straße.
Doch zurück zur Baseball-Verbindung. Sehr populär ist der Teamsport offenbar auch rund 9.000 Kilometer entfernt, nordöstlich von Los Angeles, im Wüstensand der Edwards Air Force Base (AFB). Es ist derselbe Sand, der auch in der zurückgelassenen Gürteltasche des mutmaßlichen Setagaya-Täters nachgewiesen werden konnte – für viele Beobachter wohl die faszinierendste Spur überhaupt bei diesem merkwürdigen Verbrechen.
Wir hoch ist eigentlich die durchschnittliche „Baseballplatzdichte“ in den USA? Auf der ab 1933 errichteten kalifornischen Militärbasis mitten in der Mojave-Wüste standen den dort stationieren Soldaten und ihren Angehörigen bereits im Jahr 1994 jedenfalls nicht weniger als neun Plätze verschiedener Größe zur Verfügung, wie Satellitenaufnahmen von Google Earth belegen:
Die meisten der Spielfelder befinden sich im Onizuka Park (5, in der Mitte der Basis, nahe des Youth Centers) sowie westlich neben der Irving L Branch Elem. School bzw. Desert High School (3) ; ein einzelnes Feld weiter östlich beim Edwards AFB Fitness Center. Sämtliche Felder existieren – wenn auch in erkennbar unterschiedlichem Zustand – noch heute.
Die Census-Daten aus der damaligen Zeit zeigen aber noch einen weiteren spannenden Fakt: Seit den 2000er Jahren ist die Gesamtpopulation der US-Luftwaffenbasis rückläufig – ziemlich drastisch sogar mit ca. 65% im Zeitraum 2000-2010. Der Rückbau von Wohnanlagen – nicht aber der Sportstätten – vor allem im Westen und Norden der Basis wird beim zeitlichen Vergleich der Satellitenbilder von 1994 bis heute in Google Earth klar erkennbar. Und jedes der abgerissenen Häuser ist Teil irgendeiner Familiengeschichte. Vielleicht gehört ja auch der Killer zu den mehreren Tausend Stationierten (oder zu deren Angehörigen), für die Edwards AFB zeitweilig eine Heimat war und die dann auf andere US-Basen verschickt wurden, vielleicht nach Südkorea oder Japan?
Zur Frage eines möglichen militärischen Hintergrunds des Täters findet sich im japanischen Wikipedia-Artikel übrigens noch eine weitere interessante Spur:
Obwohl unklar ist, ob dies der Zeitpunkt des Mordes war, deuten die Fußabdrücke darauf hin, dass der Täter seitwärts ging, wie es beim Militär üblich ist, indem er sich mit dem Rücken an die Wand in der Nähe der Etagenbetten im Kinderzimmer lehnte oder die Treppe hinaufging .
Hatte der Täter in den USA, Korea oder woanders eine infanteristische oder sonstige militärische Spezialausbildung (Häuserkampf o.ä.) erhalten – und diese am Tatort praktiziert?
-MR